11/10/2010

JOHN WOLF BRENNAN

Die Schweiz als blühende Klanglandschaft

Nachruf auf einen leicht verfrühten Nekrolog

[Preambulum]
Die neue dissonance tritt auf mit dem Anspruch, international zu sein (wie ihr anglisierter Name), in zeitgemässer Form und will dabei weiterhin ihrem Credo treu bleiben: sich der kritischen Begleitung des Musikschaffens zu verschreiben, statt auf die Quote zu schielen. Man will sich Unabhängigkeit leisten und der Leserschaft etwas zutrauen. Statt verkaufen will man informieren, statt anpreisen hinterfragen, findet «DRS2aktuell»-Redaktorin Corinne Holtz. So weit, so gut: soi-disant,
soi-dissonant.
[Intro]
Die neuste Nummer der dissonance mit der ominösen, sauber rausgestanzten Nummer one-eleven hat mich ganz besonders gefreut: endlich wieder mal ein paar provokative Statements! Erst dürfen wir uns über Fred Frith als Improvisationslehrer (S.10), den heimlichen Anarchisten Alfred Zimmerlin (S.18) und die Kritik des neuen Triangulation-Albums "Whirligigs“ freuen (S. 80), dann erfahren wir auf Seite 4, dass die Improvisation hierzulande eigentlich schon lange tot ist. Vielleicht sind wir im falschen Film gelandet, alles (ist) ein fataler Irrtum, und wir haben gar nie gelebt? Ein Fall für Jack Sparrow und seine nekrophile Piraten-Crew?
[Vamp 1]
Der katalanische Filmemacher Luis Bunuel hat am Ende seiner Autobiographie „Mon dernier soupir“ den bescheidenen Wunsch geäussert, einmal pro Jahr sein Grab verlassen zu dürfen, zum nächsten Kiosk zu laufen, dort in den Zeitungen nachzulesen, was die Menschheit wieder für widerliche Dinge verbrochen hat, um dann dankbar wieder in die Gruft steigen zu können. Am Kiosk gabs diesmal auch unser Branchenblatt zu kaufen. Ran an die Lektüre, in masochistischen Ritualen und hartnäckiger Groove-Spurensuche sind wir ja extemporal und asynchron geübt.
[Thema]
Der Autor Thomas Meyer – der gleichzeitig als Pro Helvetia-Stiftungsrat über die Geschicke improvisierender MusikerInnen mitbefindet – belehrt uns also über seine Sicht der Schweizer Impro-Szene, und wohin er auch blickt, stellt er Zerfall, Dekadenz, zappaesken Modergeruch und Endzeitstimmung fest. Eine Zukunft für den moribunden Patienten ist übrigens im Untertitel "Zur Vergangenheit und Gegenwart einer flüchtigen Kunstform“ schon gar nicht mehr vorgesehen. Das Grab ist geschaufelt, bevor der Text beginnt.
[Retrograde]
Abgesehen davon, dass ein grosser Teil des Artikels sich so rückwärts gewandt liest wie wenn die letzten 30 Jahre nie passiert wären, seinem anachronistischen Horizont, dem nostalgischen Kulturpessimismus und der schmalspurigen Perspektive, gibt es einige fundamentale Missverständnisse, der wir Bunuel-Zombies doch noch etwas entgegnen möchten, bevor wir wieder ins Grab zurückkehren.
[Solo 1]
"Diese frei improvisierte Musik....wirkt an diesem 22.Juni fast etabliert. Das war sie früher mitnichten..." (über ein Konzert in der WIM Zürich). Denk-würdig war nicht nur dieser Anlass, sondern auch der Versuch des Autors, hier eine Zeitenwende zu postulieren, als ob früher ein "un-etabliertes Improvisieren“ geblüht hätte, während er heute das Establishment am Werk wähnt. Tatsache ist, dass es immer um Leben und Tod geht auf der Bühne, gleichgültig ob wir nach Noten, mit oder ohne Konzepte spielen, und etabliert hat sich in den letzten Jahrzehnten höchstens die Halbwertszeit bzw. die Haltbarkeit von Mitschnitten, nie die Musik selbst. Das interaktive Klanggeschehen an sich, ob improvisiert, komponiert oder komprovisiert, ist wie alles Klingende ein flüchtiges Gas, das sich jeglicher Verdinglichung entzieht.
[Riff 2]
"Die freie Improvisation ist eine Musik, die gleichsam überzeitlich ist, die ihr sofortiges Verfallsdatum zur kompositorischen Grundhaltung macht."
In der Tat ist die Zeit eine zentrale Dimension der der Musik – jeglicher Musik, auch der (nie zeit-)frei improvisierten. Aber über-zeitlich? An dieser Riff-Falle sind schon viel grössere Fregatten zerschellt... so verführerisch
Fluchtlinien mit transzendentem Vektor sein mögen, werden wir Irdischen doch zuverlässig von der Gravitationskraft des Endlichen eingeholt, und ein Stein bleibt auf dem anderen. Auch das “sofortige“ Verfallsdatum gehorcht im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit (und erst recht im globalen Download-Supermarkt) ganz anderen Gesetzen – wer könnte hier ein Verfallsdatum von aktueller Musik verlässlich prognostizieren wollen? Frei ist die improvisierte Musik genau insofern, als dies offen bleibt.
[Kollektivimpro 3]
Hätte beispielsweise Produzent Teo Macero aus den 12 Minuten Mehrspur-Aufnahmen von Miles Davis nicht ein ganzes Album herauskristallisiert, wäre "In a Silent Way" (1969) nie entstanden. Und hätte Tontechniker Andreas Brüll nicht geistesgegenwärtig den Aufnahmeknopf gedrückt, um Bruno Amstads vokalen Vokalausbruch einzufangen, hätte "Bizarre Bazaar“, das Titelstück auf “Whirligigs“ (2010), nie das Licht der digitalen Welt erblickt. Überzeitlich war das nicht, dafür ein skrupulöser Ausleseprozess, aus dem Christy Doran und ich dann zwei Wochen später aus dreieinhalb fünfviertel Stunden Musik herausdestillierten, die garantiert ohne Absprache, dafür mit einer garantiert ungarantierten Verfallszeit entstand.
[Solo 3]
“Es zeigt sich hier, dass die Entwicklung des Materials noch keineswegs an ein Ende gelangt ist.“
[Impulse 4]
Ja, wasdennsonst, bei allen hunderttausend heulenden Höllenhunden? Warum sollte “dem Material“ eine andere Halbwertszeit innewohnen als uns Sterblichen? Genauso wenig, wie wir nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen können, bleibt das Material stehen, es entwickelt sich fortlaufend weiter, mit und ohne unser Zutun. Zu Musik wird das Material erst dann, wenn es wahrgenommen wird, und zwar, wie Wolfgang Rihm ausführte, von aufmerksam zugeneigten Hörern, sonst stirbt nämlich jeder Ton, kaum hat er das Instrument verlassen, vor den Augen des Publikums den Heldentod. Wir sind superprovisorische Untermieter, transitorische Verwender, Umsetzer, im besten Falle Erforscher, oft genug Wellenreiter und nicht selten Sturmopfer des Materials, das wir durch unsere Hände gleiten lassen, ohne es je festhalten oder gar verstehen zu können, und nie Besitzer. In raren Momenten schlägt der Blitz ein, und ein paar Kohlenstoffatome erscheinen in einem neuen molekularen Kontext.
[Vamp 2]
So what?
[Solo 4]
"Wer sich in diesem Gebiet theoretisch auslässt, muss den Ruf des Dogmatikers meiden lernen."
[Revamp 3]
Eine solch offene Haltung würde der Musikkritik ganz generell gut anstehen. Bei der freien Improvisation sollte sie ein konstitutives Element sein. André Thomkins hat dies in seinem hintersinnigen Palindrom auf den Punkt gebracht: “Dogma – I am God“
[Riff 5]
“Es gibt MusikerInnen, die sich immer noch weigern bzw. zieren, über ihre Musik zu sprechen“
[Impulse 6]
Aus diesem Schweigen eine allgemeine Lähmung herauszulesen, geht an der Sache vorbei - schliesslich gibt es auch stumme Architekten und Skulpteure, Chirurgen und Brückenbauer, ohne dass deshalb jemand gleich die Totenglocken läuten hört. Umso wichtiger sind die Stimmen, die sich aus der schweigenden Mehrheit erheben, und die gleiche dissonance-Nummer bringt ja – Frithseidank – gleich auf den nächsten Saiten ein eloquent leuchtendes Beispiel.
[Solo 7]
“Ein Nachdenken über Improvisation hat dennoch eingesetzt..." (es folgen einige zutode zitierten Beispiele der immergleichen Gewährsmänner)
[Kollektivimpro 5]
Immerhin traut uns dieses Diktum die Fähigkeit zum Denken zu, einer Tätigkeit, die doch sonst nur universitär betrieben werden kann, komplett mit Zwischenzeugnis und bolognakompatiblem Masterabschluss.
Das Grundproblem der akademischen Kreise ist, dass sie sich am liebsten selber spiegeln, und so fördern die internen Arbeitsgruppen oft nichts als Zirkelschlüsse und self-fulfilling prophecies auf inzüchtigem Hochglanzpapier. Warum wird der Geist der “gesellschaftlichen Relevanz“ immer automatisch an Hochschulen, Tagungen und Symposien vermutet? Wären grassroot-Initiativen wie die WIM, der Cave12, die Spirale, das Improvisorium, der Mullbau abhängig von diesem selbstreferenziellen Überbau, würden sie heute noch über Statuten, Stellenwert und gut dotierte Stabsstellen sinnieren, statt freiwillig freiwilde Freiräume zu öffnen.
[Solo 8]
“Was aber passiert, wenn das Wort in die Musik eindringt...?“
[Revamp 4]
Wieder so eine (unbeabsichtigt erotische?) Stelle, die bei den meisten aktuell agierenden MusikerInnen wohl nur Kopfschütteln hervorrufen wird. Spätestens seit Cathy Berberian, eher schon seit den Höhlengesängen unserer Urahnen wissen wir, dass die Stimme auch ein Instrument sein kann, während der Instrumentalist ein Leben lang darum ringt, eine STIMME zu werden. Hätte Thomas Meyer das pago libre-Programm «platzDADA!» mit der andernorts proklamierten Dogmafreiheit auf sich wirken lassen, hätte er den Unterschied zwischen “Begegnung“ und “Verschmelzung“ anders wahrnehmen können. Grenzgänge “auf dem Weg zum Nonsense“ sind beileibe keine Exklusivdomäne des Wortes. Und im übrigen hat eine überaus aktive Slam Poetry-Szene seit Jahren bewiesen, dass sehr wohl mit Worten improvisiert werden kann.
[Reprise 4]
“Die freie Improvisation hat ihr Metier bewältigt, den Aufbruch in unbekannte Gefilde hat sie hinter sich, das Wagnis ist, wenn es auch nicht verschwunden ist, so doch kalkulierbar geworden.“
Mit Verlaub, das ist verschwurbelter Nonsense, wie ihn die Dadaisten nie sinnfreier hingekriegt hätten. Weder kann dieses Metier je "bewältigt“ werden (es walten ganz andere, intersubjektive und Gewalten), noch kann ein Aufbruch in unbekannte Gefilde je hinter sich gebracht werden (dann wären sie nie wirklich un-bekannt gewesen), noch ist ein Wagnis je mess- oder gar kalkulierbar. Jede Kalkulation beruht auf festen Grössen. Der Fluch und Segen der freien Improvisation besteht eben gerade darin, dass jede Grösse variabel und jede Variable jederzeit entschwinden kann, um an einer anderen, unerwarteten Stelle wieder aufzutauchen. Das Wagnis kann nicht verschwinden, weil es gleichzeitig nie und schon immer da war. Um einen konZENtrischen Vergleich zu bemühen: nur der haarscharf daneben gezielte Pfeil trifft ins Schwarze. Das Wagnis gleicht eher einem Waag-nis, einem prekären Un/Gleichgewicht, einem equilibrio precario. Und wie wir spätestens seit der Finanzkrise wissen, sind Prognosen schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen.
[Solo 8]
“Ich glaube freilich, dass ihre Geschichte mittlerweile zumindest in der Schweiz an einen Endpunkt gelangt ist."
[Reprise 9]
Die gesicherten Erkenntnisse von heute sind die grossen Irrtümer von morgen, dass musste schon Francis Fukuyama lernen, als er 1992 nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion das “Ende der Geschichte“ ankündigte.
[Kontrapunkt]
Anderseits haben wir transitorischen Improvisatoren keinen zureichenden Grund, uns selber heiligzusprechen. Engstirnigkeit, Gartehäglidenken, Scheuklappen, Betriebsblindheit, Intoleranz und Futterneid kommen bei uns ebenso vor wie bei anderen Berufsgattungen, bei Managern so gut wie bei den Bauern. Und dada wir eher kulturell als agrikulturell tätig sind, haben wir keinen Anspruch auf Subventionen, schon gar keinen automatischen. Eine anständig-randständige Hangzulage pro Klein- (Solo) und Grossvieheinheit (Ensembles) täte zwar not und wäre schön für unser Heidiland – schliesslich sind wir Klanglandschaftsgärtner der etwas anderen, unbezahlten, vielleicht auch unbezahlbaren Art und gehören womöglich schon bald zum Unesco-Weltkulturerbe.
[Reprise 3]
Aber Ansprüche daraus abzuleiten, dass wir tun, was wir nicht lassen können, das ist uns – im Gegensatz zu unseren bäuerlichen Kollegen – gründlich ausgetrieben worden. Eine soziale Notwendigkeit besteht schlicht nicht. Oder ist die departementale Aufgabenverteilung gar so gedacht, dass sich die Bauern um den Humus kümmern und wir uns um den Posthumus?
[Bridge]
Dank der dissonance sind wir im Hades doch immerhin um einen dampfend dissonierenden Misthaufen reicher geworden. Schon bei Dante hats in der Hölle wesentlich mehr drive, power und action als im seligen Paradies, und Goethes Doktor Faust ist ein himmlischer Langeweiler im Vergleich zum bissig blitzgescheiten, aberwitzig fegefeurigen Mephisto.
[Outro]
Wir sind weder als Notvorrat noch im Schulkanon vorgesehen. Zum Existenzminimum einer Kulturgesellschaft gehören wir aber trotzdem, gerade weil wir keine Luxusgüter herstellen, sondern geistige Grundlagenforschung, und daraus gedeihend ab und zu auch ein paar vitale Grundnahrungsmittel, ebenso reich gespickt mit sogenannten Disso- wie mit Kon-Sonanzen. Die Schweiz als blühende Klanglandschaft – ein Nekrolog? Eher eine quicklebendige Utopie im Hier und Jetzt, gleichzeitig nowhere und gerade deswegen now and here.

John Wolf Brennan, Komprovisator,
Mitbegründer einiger Working Bands
(Pago Libre, Momentum, Triangulation)

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