19/10/2010

KARL ein KARL

Lieber Thomas

Wir bedanken uns bei Dir sehr für den wichtigen Anstoss zu einer Diskussion, den Du mit Deinem Artikel «Ist die freie Improvisation am Ende?» in der Dissonance 111 gegeben hast. Sie findet lebhaft statt, leider unter einem etwas kurzsichtigen Titel und leider teilweise mit unnötiger Aggressivität.

Du hast also erfreulich viele Reaktionen ausgelöst, einige etwas unausgereifte oder zu kurz greifende Gedanken von Dir sind bereits differenziert abgehandelt worden. Wir verweisen gerne auf den sachlichen, ausführlichen Beitrag von Miriam Sturzenegger. Es freut uns auch, dass vor allem die junge Generation sich vehement gemeldet hat – zu recht. Was bedarf es mehr, um zu zeigen, wie lebendig und relevant diese Musik und diese Szene sind?

Wir möchten nun nicht auf Einzelheiten Deines Artikels eingehen, sondern würden es vorziehen, einmal mit Dir persönlich bei einem Glas Wein darüber zu diskutieren, welche nostalgischen Impulse Dich zu diesem Artikel bewegt haben. Eine Nostalgie, von der Dein Artikel zwar getragen ist, deren Ursprung jedoch nicht artikuliert wird.

Wir finden es interessant, dass Du einen Anfang als Aufhänger für das Einläuten einer Endzeit nimmst. Für uns Beteiligte war das Konzert des Septetts in der WIM Zürich am 22. Juni 2010 eine Untersuchung, ob in dieser spezifischen Septettformation frei improvisierend musikalische Fragen auf den Punkt gebracht werden können. Mit zweifelsohne erfreulichem Ergebnis. Aber eben, ein Anfang: Nun wird ein Arbeitsprozess in Gang gesetzt, während dessen wir viel Zeit dafür aufwenden werden, die Tonsprache des Septetts zu vertiefen. Kein Ende: Wie auch Joseph Haydn nach der perfekten Sinfonie Nr. 99 die noch bessere Sinfonie Nr. 100, dann die weitere Tiefen auslotende Sinfonie Nr. 101 komponiert hat.

Das Endzeitliche, das Du zu erspüren meinst: Liegt es nicht eher im Ende einer alten Zeit, der Du etwas nachtrauerst, als frei improvisierte Musik vermeintlich aus einer «Gegengesellschaft» heraus sich entwickelte? Was auch damals nicht so war. Die Entwicklung des Free Jazz, der frei improvisierten Musik wurde immer durch rein musikalische Entscheidungen in Bewegung gehalten, die allerdings dann gesellschaftliche Folgen hatten: Wer eine verbindliche, gesellschaftlich anerkannte «Grammatik» verliess, geriet in den sogenannten «Untergrund».

Heute jedoch ist die Situation völlig anders als in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern. Es gibt in diesem Sinne keine «Gegengesellschaft» mehr. Die 68-er-Generation hat einen Demokratisierungsprozess ausgelöst, der Folgen hatte: Mauern, die Widerstände boten und an denen wir uns rieben, wurden eingeebnet (die letzte vor 20 Jahren). Nun darf jeder und jede alles (mit allen positiven und negativen Konnotationen). Musikalisch bedeutet das «anything goes», dass jeder und jede für sich ästhetisch klar Stellung beziehen muss, um nicht im Unverbindlichen zu landen. Ein Problem, das sowohl komponierende als auch frei improvisierende Musikerinnen und Musiker kennen, denn es ist das grundlegende Thema der späten Postmoderne.

Wir jedenfalls sind froh, dass wir uns heute ganz auf die Musik konzentrieren können, ohne ideologischen Ballast und ohne Revolutionäre sein zu müssen.

Herzliche Grüsse

KARL ein KARL:
Peter K Frey
Michel Seigner
Alfred Zimmerlin

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