24/09/2010

DANIEL STUDER

Lieber Thomas,

Todgesagte leben länger…
Freie Improvisation zu fassen scheint mir überaus schwer, jeder improvisierende Musiker hat seine eigene Vorstellungen, was bereichert und zu einer Vielfalt führt. Auch aus diesem Grund dürfte es schwierig sein, dass die Freie Improvisation aussterben wird. Neue Ideen und Bedürfnisse an die Musik fliessen immer ein und dies wird weiterhin so sein und somit auch diese Art von Musik am Leben erhalten.
Wir müssen aber zwischen Stil und Ausdrucksform unterscheiden. Ein Beispiel: der „Free Jazz“ der 60er Jahre wurde von den Musizierenden selbst überholt, aber die Freie Improvisation als Ausdrucksmittel existiert weiter und wird noch lange neue Stile entwickeln. Stile, Stilrichtungen sind zeitliche Erscheinungen, sie sterben aus. Wer sich an einem Stil festklammert wird dessen „Aussterben“ (vielleicht) bedauern und wird den Anschluss und den Zugang zu neuen Formen nicht finden.

Dein Artikel spricht sehr viele Themen an. Vieles habe ich mit grossem Stirnrunzeln gelesen, oft mit Unbehagen über die Ungenauigkeiten und Unkenntnisse. Ich möchte aber nur an einem Ort nachhacken, der mir besonders am Herzen liegt, und von dem viele Probleme der Freien Improvisation ausgehen:
„…die gesellschaftliche Relevanz (der freien Improvisation) scheint doch verloren zu sein.…“
Da kommt natürlich die Frage: was heisst gesellschaftlich relevant?
Auf jeden Fall kann ich nur konstatieren, dass die Bedeutung der Freien Improvisation in der Gesellschaft (noch) nie von grosser Bedeutung war. Die ImprovisatorInnen die nun teilweise im Pensionsalter sind, haben diesbezüglich zwar sehr gute Vorarbeit geleistet (SUISA, Konzertreihen, Etablierung von öffentlichen Geldern, Schulen etc.), aber von gesellschaftlicher Relevanz kann mit Sicherheit nicht gesprochen werden. Da gibt es noch viel zu tun. Hier nur einige Beispiele:

Öffentliche Gelder:
Die Freie Improvisation ist eine Ausdrucksform, in der kompositorische und interpretatorische Aspekte im gleichen Moment zusammenfallen, eine „Kollektivkomposition“ ohne Vorgaben. Dass dies mit Arbeit, Proben etc. verbunden ist, scheinen viele Geldgeber nicht zu verstehen. Finanzielle Unterstützung für die kompositorische und/oder interpretatorische Arbeit gibt es in nur selten. Weiter werden fast unüberwindbare Hürden geschaffen, wie z.B. 5-7 Auftritte in kurzen Zeitabständen und in verschiedenen Sprachregion u/o Ausland. Zusätzlich kommt hinzu, dass unsere Konzertorte „zu geringe Resonanz“ haben und aus diesem Grund aus dem Raster fallen. Diese Form der (nicht) Unterstützung verhindert vertiefte und kontinuierliche Zusammenarbeiten. Was sich natürlich auch im Produkt niederschlagen kann.

Veranstalter:
Wie viele Veranstalter lassen sich auf die Freie Improvisation ein? Es ist immer noch eine verschwindend kleine Anzahl. Diese Musik ist nicht mehrheitsfähig, ähnlich wie gewisse Bereiche in der zeitgenössischen komponierten Musik (die zum Glück eine etwas „grössere“, aber leider immer noch viel zu kleine gesellschaftliche Relevanz hat), und bedarf deshalb besonderer Aufmerksamkeit und Vorsicht.

Schulen:
In den letzten Jahren wurde die Improvisation in den Hochschulen eingeführt (Bologna Reform). Improvisation ist ein sehr weites Gebiet, das ganzheitlich vermittelt werden sollte, also auch unter Miteinbezug der Freien Improvisation. Dies wurde zum Teil so umgesetzt, was ich als Erfolg betrachte. Trotzdem sehe ich noch viele Dozierende und Schulleiter, die von der Improvisation wenig/ keine Ahnung haben und sie deshalb im Unterricht nicht berücksichtigen, ja sogar als rotes Tuch betrachten.

Ich denke, dass gerade die gesellschaftliche Irrelevanz der Freien Improvisation zu vielen Missverständnissen, Vorurteilen und Unkenntnissen führt. Gesellschaftliche Relevanz kann nur durch ein breit abgestütztes Netz entstehen. Die Freie Improvisation (wie die Improvisation im allgemeinen) ist davon noch weit entfernt. Das macht die Arbeit schwierig und darum müsste genauer und vorsichtiger hingeschaut werden. Dein Artikel ist diesbezüglich nicht klärend, sondern schürt geradezu die Verwirrung.

Die Freie Improvisation wie die Improvisation wird wohl kaum aussterben, dafür ist sie zu lebendig. Mit verstärkter Hilfe von öffentlichen wie privaten Institutionen, Schulen, Medien etc. könnte sie aber aufblühen. Übrigens soll die Improvisation ja laut der „Kulturbotschaft“ des Bundes (im Rahmen des neuen Kulturförderungsgesetztes) gefördert werden. Welche Form der Improvisation werden wir ja sehen.
Wenn sich jedoch Kulturbeobachter, Kritiker, Institutionen von der zeitgemässen Kunst abwenden und dafür kein Verständnis zeigen, werden sie als erste Gefahr laufen auszusterben. Dies wäre eine verheerende Entwicklung. Italien lässt grüssen.

Herzlich
Daniel

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