24/09/2010

LUCAS NIGGLI

Die Freie Improvisation lebt mehr denn je!

Eine Replik auf Thomas Meyers Artikel Ist die freie Improvisation am Ende? (dissonance 111, September 2010)

Lieber Thomas,
es ist ein Vergnügen in der erfrischten dissonance die Schwerpunktartikel zur Freien Improvisation zu lesen. So auch Dein Versuch die Improvisationsszene der Schweiz etwas polemisch in den Sarg zu verfrachten. Du bittest um Widerspruch. Bitte!
Leider bin ich mehr als irritiert ab dem Inhalt Deines doch etwas nostalgisch-motivierten Abgesangs auf die Freie Improvisation, dem, wie Du Dich selbst verdächtigst, tatsächlich ein mittelalterlicher Mief anhaftet. Fast alle Beispiele, die Du nennst, alle Musiker, die Du aufzählst, alle Ereignisse, die Du erwähnst sind entweder aus Deiner Generation oder haben zwischen 1990 und 2000 stattgefunden. Am meisten aber irritiert mich, dass Dir – als von mir sehr gern gelesener Musikkenner und -schreiber – der «Anfängerfehler» unterläuft: Du willst die Freie Improvisation als einen musikalischen Stil hören, was sie doch überhaupt nicht ist. Wie wir an einer der erwähnten und leider nicht mehr stattfindenden Tagungen in Luzern ausführlich diskutiert haben, ist sie in erster Linie eine musikalische, oder besser: künstlerische Haltung !
Was wir Improvisatoren, die, wie es Jacques Demierre sehr treffend ausdrückt, die volle Verantwortung für die Musik übernehmen wollen, wirklich nicht brauchen, was aber zynischerweise in Deinem Text als Dogma daherkommt, ist dieses Verlangen nach einer reinen , «undogmatischen» Musizierweise. Da muss ich mich als Interpret von Komponisten aller stilistischer Herkunft – hier darf ich wohl das Wort Stil brauchen – und als «freier» Improvisator auf möglichst allen Bühnen der Welt doch vehement gegen diese Einengung wehren. Wir wollen nicht soweit kommen, dass wir uns von Dogmen der Freien Improvisation, wie Du Sie herbeianalysierst, befreien müssen, wie es vielleicht die Free Jazzer Ende der sechziger Jahre tun mussten.
Du schreibst von: « Anklänge vermeiden», «Die Herausforderung fremdes Material ins eigene Musizieren zu integrieren» – und fragst: «Ist die freie Improvisation nur noch ein Ausdrucksmittel unter anderen?» Das Zitat aus einem Gespräch mit Christoph Baumann zur «Befreiung der Ideologie der Freien Improvisation» nimmt doch diese meine Replik bereits vorweg und hätte Dir Antithese genug sein sollen.
Irgendwie hast Du nicht mitgekriegt, dass dank einiger in Deinem Artikel erwähnten Protagonisten und Vorkämpfer dieser Musizierhaltung (darunter für mich wichtige Lehrer) ein Selbstverständnis an zahlreiche in der Schweiz lebende Musiker der jüngeren Generation – egal ob mit akademischem Hintergrund und/oder mit Rock, Jazz oder Noise sozialisiert – weitergegeben wurde? Ich zähle mich als Kind des «anything-goes» klar dazu, bin in vielen Ohren ein «Hansdampf-in-allen-Stil-Gassen», will aber immer die Verantwortung übernehmen und mich frei in der Musikwelt bewegen, egal ob notiert, konzipiert, improvisiert, rezykliert oder welche Arbeitsweisen auch immer verlangt werden – und darin widerspiegelt sich eine Lust, und mittlerweile wohl auch eine Fähigkeit vieler jüngerer Musiker, die Du allesamt nicht erwähnst oder einfach nicht kennst: eine Lust, die Improvisation als verantwortungsvolle Künstler zu leben; ein Haltung eben. Oder wie es Olaf Rupp (ein Gitarrist aus Berlin) formuliert: «Wir ‹Unverwurzelte› sehen das nicht als Genre-Problem, sondern als Chance zur musikalischen Freiheit.»
Um eine Antwort auf Deine Frage zu erhalten, ob die Freie Musik heute nicht gleich klingt wie vor zwanzig Jahren, hättest du vielleicht anstelle des Konzerts der hochgeschätzten Kollegen der «Gründergeneration» an ein Konzert von Twopool (Jonas Tauber, bass; Christian Wolfarth, percussion; Andrea Oswald, alto saxophone; Andreas Tschopp, trombone) oder von Mersault & Nate Wooley (Tomas Korber, electronics, guitar; Christian Weber, bass; Christian Wolfarth, percussion) gehen sollen – um nur zwei Konzerte des aktuellen Oktober-Programms der WIM Zürich zu erwähnen. Oder ein Konzert am Echtzeitmusik-Festival in Berlin. Oder eines der zahlreichen Konzerte der improvisierenden Musiker um Cor Fuhler und Anne La Berge in Amsterdam. Diese Liste könnte ich ausführlich weiterführen, auch als klare Antwort auf Deine Frage: «Ist die freie Improvisation am Ende?»
Kommen wir zum Thema der «Nichtvermittelbarkeit» freier Improvisation – ein möglicher Widerspruch zu ihrer Installation als Pflichtfach an den Musikhochschulen? Es ist doch wunderbar, dass alle Musikstudierende in Ihrer Ausbildung zu welchem Spezialistentum auch immer das Fach «Improvisation» belegen müssen. Als frischgebackener Dozent an der ZHdK wage ich noch keinen Ausblick dazu, bin aber dank zwanzig Jahren Bühnenerfahrung (bitte, inklusive intensiver Backstage-Post-Konzert-Reflexion!) guter Dinge, da einiges auslösen zu können. Auf dass sich die Frage der Unvermittelbarkeit durch gelebte Praxis relativiere. Die Freie Improvisation kann man, wie einige Dinge im Leben, nur durchs Tun lernen. Das Experiment, der Versuch lebt.
Erinnerst Du Dich, wie Du mich vor zwanzig Jahren in Boswil interviewt hast? Leider hatten wir kaum die Gelegenheit unsere Positionen gegenseitig ajour zu halten. Holen wir dies jetzt doch nach, aber bitte verschon mich mit der Totengräberstimmung oder mit dem «die Revolution hat stattgefunden». Da und dort riecht sie sicher streng, die Freie Improvisation, um sinngemäss Frank Zappa zu zitieren. Und diese Musikform kann und will nicht immer gelingen, dieses Risiko wollen wir ja gerade eingehen! Diese «Revolution» findet doch tagtäglich im Kleinen statt, im Kampf gegen die Routine. Und ich wage zu behaupten, dass es nicht so eine verrückte Revolution war, wie Du vermutest, diese Etablierung der Freien Improvisation. Ist sie doch seit eh und je das Lebenselixier aller einigermassen kreativ wirkenden Musiker, ob Komponisten, Interpreten, Dirigenten, Lehrer oder verantwortungsvolle Improvisatoren. Nur hat sie in den letzten zwanzig Jahren glücklicherweise massiv an Status, Selbstverständnis und Differenzierung gewonnen. Da brauchen wir sie nicht – ihrer Unübersichtlichkeit wegen – wieder tot zu schreiben.

Lucas Niggli

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