28/09/2010

MARC UNTERNÄHRER

Als Musiker und Mitinitiant des Mullbaus in Luzern bin ich erstaunt über Thomas Meyers Behauptung, die freie Improvisation sei am Ende. Das entspricht nicht meiner Wahrnehmung. Dankbar bin ich über die vielen Reaktionen meiner Vorgänger, die zu Recht und ausführlich darauf hinweisen, dass die jüngere Szene im Artikel total vernachlässigt wird. Seit fast drei Jahren organisieren wir in Luzern frei improvisierte Konzerte, leider noch immer unsubventioniert. Bei uns hört man Working Bands und ad-hoc Gruppen, die ältere sowie die jüngere Generation, internationale, nationale und lokale Grössen, Etablierte und Studierende, noisige Stream-Of-Consciousness-Bands und Miniaturen zirkelnde MelodikerInnen, elektronischen Minimalismus und Free Jazz. Ausserdem finden monatlich frei improvisierte Konzerte für Kinder statt. Nach den Konzerten wird bei uns unter den MusikerInnen zusammen mit dem Publikum sehr häufig Kritik geübt und debattiert. Gerade der Umgang mit Melodik oder auch Groove ist ein oft diskutiertes Thema und die Wiedereingliederung dieser in freie Kontexte ist ein Prozess, der interessant zu beobachten ist, natürlich mit mehr oder weniger gelungenen Ergebnissen. Trotzdem, um ein Zwischenfazit nach weit über hundert Konzerten zu wagen: Ich bin erstaunt, wie hoch die Qualität des Gehörten insgesamt ist, so unterschiedlich die einzelnen Standpunkte auch sein mögen.

Ich gebe Thomas Meyer recht, dass der Diskurs über diese Formen von Musik häufig vernachlässigt wird. Liegt das an der Sprache? Tatsächlich fehlt den ProtagonistInnen oft die Begrifflichkeit. Doch womit hängt das genau zusammen? Haben sich vielleicht nicht eher die TheoretikerInnen von dem Geschehen zu sehr entfernt? Ist die (akademische) Theorie ebenso überfordert, mit den neuen Tendenzen Schritt zu halten, wie die Musikmachenden überfordert sind mit den Etiketten, die ihnen sogleich angebracht werden? Zeichen dafür sind, dass sich MusikerInnen zieren, über ihre Musik zu sprechen und MusikjournalistInnen absurderweise behaupten, die freie Improvisation sei am Ende. Das befreit sie immerhin von der Anstrengung, neugierig zu bleiben und Konzerte zu besuchen, die sie möglicherweise überraschen könnten. Die MusikerInnen werden zum Glück nicht aufhören, über ihre Musik nachdenken zu müssen. Auch wenn sie manchmal Mühe mit Formulierungen haben.

Zu meiner Zeit am Konservatorium fand die einzige ästhetische Auseinandersetzung mit Musik im Improvisationsunterricht statt. Musikstudierende lernen diese Begrifflichkeit nicht und wollen sich später durch eine intellektualisierte Sprache nicht eingrenzen lassen. Eine fundierte Berichterstattung und Auseinandersetzung - und damit Anerkennung - fehlt in den Medien ebenso fast völlig. Die MusikerInnen reflektieren jedoch sehr wohl genauestens, was sie produzieren, das zeigt auch dieser Blog. Der Austausch ist extrem wichtig. Allerdings nicht unbedingt auf Symposien, die meistens von der von Thomas Meyer portraitierten Alterschicht einberufen und abgehalten werden. Wohin die Akademisierung zum Beispiel des Jazz, der neuen komponierten Musik oder neuerdings der Volksmusik im schlechtesten Falle führen kann, haben wir gesehen. Improvisierende MusikerInnen jeden Alters wollen sich nicht in einen Elfenbeinturm zurückziehen, sondern suchen die Bühne und das Publikum. Das ist, wie auch Thomas Meyer weiss, schwierig genug. Dass die Musikwissenschaft in der Wahrnehmung von neuen Tendenzen immer hinterher hinkt, liegt in der Natur der Sache. Schlimm wird es, wenn die Musikwissenschaft - beziehungsweise in diesem Fall die Kulturberichterstattung - der Musik sagt, dass sie an einem Endpunkt angelangt ist und die Kulturpolitik diese Thesen dankbar aufnimmt. Wenn die Schubladen zu sind, ist da kein Platz mehr für Neues.

Und doch: Die Freie Improvisation ist inzwischen als Unterrichtsfach an den Musikhochschulen verankert. Thomas Meyer meint, dass sie so ihren Underground-Bonus und ihre Ursprünglichkeit verspielt hat. Warum ist nicht ganz nach zu vollziehen. Der zitierte Urban Mäder beschreibt sehr schön, warum Improvisation ein wichtiger Teil der musikalischen Ausbildung ist (ergänzend wäre hinzuzufügen, dass sie eine ideale Wahrnehmungsschule darstellt). Dabei geht es nicht allein darum, dass alle Teilnehmenden zu besseren MusikerInnen werden. Sie sollen wiederum das Interesse und das Rüstzeug erhalten, in ihrem späteren pädagogischen Tun an den Musikschulen Improvisation mit einbeziehen zu können, wie das die Pädagogik seit den Siebziger Jahren fordert, um Kinder und Jugendliche ideal fördern zu können. Aus diesem Grund gibt es mittlerweile auch Improvisationskurse an den Pädagogischen Hochschulen. Dieser Anspruch ist ebenfalls hoch, allerdings nicht zu verwechseln mit dem künstlerischen Anspruch auf einer Bühne. Auf alle Fälle ist daraus nicht abzuleiten, dass diese Kunst ihre Notwendigkeit verloren hat. Im Idealfall schaffen wir uns so mittelfristig ein neues Publikum.

Neue stimmliche und textliche Projekte gibt es übrigens einige. Die Einflüsse sind zum Beispiel Slam Poetry, Rap oder die junge zeitgenössische Literatur. Zu nennen wären unter anderen das Projekt Bern Ist Überall, Michael Stauffer in diversen Projekten und Hörspielen zum Beispiel mit Hans Koch oder Hans-Peter Pfammatter, oder Jürg Halter alias Kutti MC, der mit Julian Sartorius, Fredy Studer, Philipp Schaufelberger und Vera Kappeler auftritt. Der Pop-Bereich (unter anderen) ist vielen tatsächlich ein nahes Bezugsfeld, und die Pop Musik wird von ImprovisatorInnen bereichert (Julian Sartorius hat bis vor kurzem eine eigene Farbe in die Band von Sophie Hunger gebracht). Ausserdem wäre es eine Betrachtung wert, wie die Theaterarbeit oder die Kunstszene die frei improvisierte Musik bereichert und umgekehrt durch sie bereichert wird (ich erinnere zum Beispiel an das Duo Luigi Archetti/Bo Wiget).

Mir scheint, die Schweizer Szene ist in den letzten Jahren zusammen gerückt und dadurch so spannend wie nie. Die Qualität zählt, nicht der musikalische Background oder die Sprache. Das Wissen über verschiedene Musikstile - und dadurch der Respekt vor diesen – wächst. Auch der Austausch über die Landesgrenzen nimmt zu. Auch hier gibt es viele junge, kontinuierliche Beispiele: Die Projekte von Paed Conca mit libanesischen MusikerInnen, das Ensemble Rue Du Nord mit dem Projekt Swiss Balkan Creative Music, die vielen in den letzten Jahren durch das Luzerner Atelier in Chicago ausgelösten Kollaborationen und viele mehr.

Das sind alles Bereicherungen, die diese Form von Musik für mich lebendig erhalten und weiterführen und die nicht „kompromisslerisch“ sind. Vielleicht finden junge MusikerInnen neue Antworten auf Fragen, die die Generation der 60-jährigen für sich schon beantwortet hat? Die Dogmen der frei improvisierten Musik gehören in das letzte Jahrtausend, inzwischen ist sie viel freier geworden.

Das zeigt sich an dem nächsten Missverständnis: Denn Thomas Meyer unterstellt der freien Improvisation, den Aufbruch in unbekannte Gefilde hinter sich zu haben. Als Beleg dient ihm ein Konzert dieses Jahr mit Peter Brötzmann, der „tatsächlich sogar schön geformte Linien“ von sich gab. Abgesehen davon, dass die Diskussion, ob Brötzmann überhaupt spielen kann (oder Anthony Braxton swingen, Derek Bailey über Harmonien spielen, Picasso perspektivisch zeichnen...) ein veraltetes Klischee ist, das mich langweilt, ist Brötzmann ein schlechtes Beispiel. Wer Ohren hatte zu hören, hat diese Seite von ihm schon viel früher wahrgenommen, spätestens auf seinen Solo-Aufnahmen. Eine schwere Operation vor ein paar Jahren und ein damit verbundener gesünderer Lebenswandel mögen das ihrige dazu beigetragen haben. Thomas Meyer sieht das wohl als Rückschritt, doch wäre ich enttäuscht von Brötzmann, wenn er 40 Jahre lang gleich klingen würde. Die Zeiten haben sich gewandelt und gewisse Kämpfe sind ausgefochten. Auf den Zeitgeist pfeifend geht er seinen Weg weiter, wer will es ihm verübeln, bleibt neugierig und kraftvoll, wählt seine Mitmusiker, die mit ihm mithalten können und die oft ein gutes Stück jünger sind als er und klingt besser denn je.

Als Epilog auch ein Konzerterlebnis: Zufälligerweise am gleichen Wochenende wie der STV/Lucerne Festival Abend mit improvisierter Musik im Südpol fand im kleinen und wegen grossem Publikumsaufmarsches aus allen Nähten platzenden Mullbau ein von Christoph Erb kuratiertes Festival statt. Ausschnitte: Nach Hans-Peter Pfammatters lyrischem Klavierspiel hat Flo Stoffner ein laut-verzerrtes flächiges Solo-Gitarren-Set hingelegt, die junge Bieler Szene war vertreten mit Vincent Membrez und Lionel Friedli im qoniak Groove-Duo, direkt nach Hildegard Kleebs fast klassisch-modernen Klavierakkorden zu Pelayo Arrizabalagas Turntables. Davor war noch ein langer dramaturgischer Bogen des Elektronik-Duos strøm zu hören, einer veritablen Working Band. Mein persönliches Highlight war ein - wenn man so will - Generationen übergreifendes Trio mit Hans Koch, Christian Weber und Hans-Peter Pfammatter. Das klang nie altbacken, denn gerade die grosse Erfahrung dieser Musiker führte sie zu einer äusserst modernen, formal und inhaltlich überzeugenden Musik, mit Underground-Bonus. Es hatte alles, was Thomas Meyer vermisst. So ein Festival hätte vor 15 Jahren definitiv anders geklungen.


Marc Unternährer

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