25/09/2010

HANS-JÜRG MEIER

Eher Fragen als eine Replik zum Artikel „Ist die freie Improvisation am Ende?“ von Thomas Meyer (dissonance 111 – September 2010)

Ich teile das etwas mulmige Gefühl, welches Thomas Meyer eingangs seines Dissonance-Artikels „Ist die freie Improvisation am Ende?“ über das Konzert vom 22. Juni 2010 beschreibt. Ein ähnliches Erlebnis machte ich zufälligerweise am selben 22. Juni 2010 in einem „Atelierkonzert“ in Basel. Ebenfalls waren hochkarätige Improvisatoren der älteren und jüngeren Generation am Werk (Michel Doneda, Christoph Schiller, Jonas Kocher und Gaudenz Badrutt). Sehr schöne Musik, gut gehört und klar geformt, war zu hören, seltsam überraschungslos indes. Den Eindruck, hier habe sich ein allgemeiner Kanon, wie die Freie Improvisation zu klingen habe, durchgesetzt und werde quasi perfekt ausgeführt, teilte ich überraschenderweise mit einem Gesprächspartner, ebenfalls ein erprobter Improvisator.

Wie Thomas Meyer schreibt, ist eine Diskussion und ein Nachdenken über den aktuellen Zustand der freien Improvisation höchst erwünscht. Aus meiner Warte des Komponisten, der seit geraumer Zeit improvisiert, diese Form des Musizierens schätzt und - wie im „Festival für zeitgenössische improvisierte und komponierte Musik“ in den Jahren 2000-05 in Basel thematisiert - keinen grundsätzlich qualitativen Unterschied zur komponierten Musik sieht, nehme ich das Phänomen des „Stillstandes“, der Akademisierung, einer Anpassung an den „Mainstream“ der Musik auch in komponierten Werken wahr. Müsste demnach von einem allgemeineren Phänomen gesprochen werden? Wieviel und wo wird darüber gesprochen oder geschrieben? Ist es eine Art Stilbildung, die man auch als Folge von Vermarktungsstrategien und Förderkriterien bezeichnen könnte? Ist vielleicht die Frage im Titel des Artikels von Meyer falsch gestellt? Oder sind vielleicht die Erwartungen an die sich selbst so bezeichnende „freie“ Improvisation so hoch, dass das Phänomen „Endpunkt“ dabei umso mehr auffallen mag? Anders gesagt: lenkt der Begriff „frei“ (ebenso wie der Begriff „Avantgarde“) heute in eine falsche Richtung?

Wie dem auch sei, bedenkenswert ist auf einer ganz anderen Ebene die Reaktion von einflussreichen Förderstellen, die offenbar aufgrund eines einzigen Artikels ihre Unterstützungspolitik überdenken. Denn Thomas Meyer äussert in seinem Artikel eine persönliche Meinung, die er mit vielen Fragezeichen und grosser Skepsis gegenüber sich selbst behutsam zu formulieren versucht. Und: er fordert gar explizit den Widerspruch ein. Wie anfangs geschildert, teile ich ein gewisses, denkwürdiges Erlebnis mit dem Autor, aber ich finde es unhaltbar, daraus Schlüsse für eine Förderpolitik zu ziehen. So gesehen, ist das Thema schlicht zu kurzsichtig betrachtet, ist zu einseitig an sogenannter Innovation oder zahlenmässig grossem Aufmarsch von Publikum orientiert. Die Szene der freien Improvisation in der Schweiz verdient eine Pflege, vielleicht gerade heute eine intensivere, um den Handlungsspielraum nutzen zu können, frisch und mutig in die Zukunft zu schreiten.

Hans-Jürg Meier, 24. September 2010

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