24/09/2010

TOMAS KORBER

Lieber Thomas,
Mit Befremden habe ich Deinen Text zum Tod der freien Improvisation zur Kenntnis genommen. Ich möchte ganz unsystematisch – als Denkanstoss so zu sagen – ein paar problematische Stellen des Artikels näher besprechen:

"Kommt hinzu, dass die wichtigsten Figuren 50+, ja teilweise sogar schon im Pensionsalter sind." – Bei allem Respekt, aber es scheint mir, als hättest Du das letzte Jahrzehnt, ja sogar einen Grossteil der 90er Jahre, schlicht verschlafen. Die Musiker, die Du im Artikel erwähnst, sind tatsächlich meist über 50. Nur sagt das mehr über dein mangelndes Wissen (oder Interesse) in Bezug auf aktuelle Entwicklungen in der freien Improvisation aus, als über den tatsächlichen Zustand derselben. Für eine Übersicht einiger der jüngeren Figuren, verweise ich auf meinen Text In Echtzeit: Improvisierte elektronische und elektroakustische Musik im soeben erschienenen Buch von Bruno Spörri Musik aus dem Nichts - Die Geschichte der elektroakustischen Musik in der Schweiz (dieser Text bezieht sich wohlgemerkt nur auf Musiker, die mit elektronischen Mitteln arbeiten).

"Ob sich freilich die Improvisatoren im STV vertreten fühlen? Jedenfalls dürfte ihnen in dieser Umgebung oft wohler sein als im Pop-Bereich, in dem sie zuweilen subventionsmässig landen. Das Verständnis ist innerhalb der Neuen Musik grösser." – Deine Fokussierung auf den Bereich der freien Improvisation, der sich aus der Neuen Musik entwickelt hat oder sich dieser inhaltlich resp. historisch stark verbunden fühlt, dürfte einer der Gründe sein, weshalb Du wichtige neue Entwicklungen übersehen hast. Freie Improvisation in ihrer jetzigen Form zeichnet sich gerade durch die Pluralität der musikalischen Hintergründe ihrer Akteure aus. Was ich damit sagen will: Viele der aktiven Musiker fühlen sich 'populären' Musikformen (Rock, Pop, Techno, usw.) genauso verbunden, wie der Neuen Musik.

"Bedeutet das nun, dass freie Improvisation nur noch ein Ausdrucksmittel unter anderen ist?" – Ja, und was wenn dem so wäre? Was heisst 'nur noch'? Ich selber gehöre zu jenen Musikern, die Improvisation immer schon in erster Linie 'bloss' als Arbeitsmethode (äquivalent zu Komposition) verstanden haben, also frei jeglicher Ideologie. Andere Kollegen sehen darin eine grundsätzliche Haltung, wiederum andere sogar eine umfassende Lebensphilosophie. Wichtig scheint mir, dass all diese verschiedenen Einstellungen und Backgrounds nebeneinander Platz haben. Freie Improvisation kann vieles sein, Definitionen scheinen überflüssig, die Grenzen sind sowieso fliessend und in ständiger Bewegung.

"Fraglich ist allerdings, ob innerhalb der freien Improvisation nicht der drängende Wunsch nach dem Diskurs fehlt, nach der Formulierung einer Ästhetik, dem Nachdenken – und das ist einer der Gründe, warum selbst in Fachzeitschriften wie der dissonance vergleichsweise selten darüber reflektiert wird." – Der Wunsch nach dem Diskurs fehlt keineswegs, unter Musikern schon gar nicht, wie mir meine täglichen Erfahrungen zeigen. Jedoch hat sich der Diskurs in der Öffentlichkeit durch die in den letzten zwei Jahrzehnten aufgekommenen Technologien (a.k.a. Internet) eindeutig verschoben. Einige Beispiele von Blogs und Foren in denen rege (für meinen Geschmack manchmal sogar zu rege) diskutiert wird, findet sich z.B. in dieser Linksammlung: http://www.thewatchfulear.com/?page_id=146. Auch in einer Fachzeitschrift wie dissonance würde öfter darüber reflektiert, wenn man denn Autoren beauftragen würde, die tatsächlich etwas über das Thema zu sagen haben.
Zusammenfassend: Die Frage ob man die freie Improvisation für tot erklärt oder sie für eine lebendige Kunstform hält, ist für mich im Wesentlichen ein definitorisches Problem: Wird sie als musikalisches Genre verstanden, ist sie womöglich tatsächlich schon lange tot. In der meiner Meinung nach weitaus relevanteren Auslegung als Spielhaltung oder Arbeitsmethode ist sie dies keineswegs.
Freundliche Grüsse,

Tomas Korber

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